Wie man Weisheitsliteratur liest
November 27, 2025
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Die Propheten lesen lernen

Die Propheten sind schwer zu verstehen. Teilweise liegt das daran, dass Gott sich ihnen in Träumen und Visionen offenbarte. Nur mit Mose sprach Gott von Angesicht zu Angesicht (vgl. 4Mose 12,6–8). Zu den großen Propheten gehören Jesaja, Jeremia, Hesekiel und Daniel. Die kleinen Propheten umfassen Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi. Hier sind einige Tipps, die uns helfen, die prophetischen Bücher besser zu verstehen.

1. Untersuche den Kontext.

Zuerst solltest du so viel wie möglich über den historischen Anlass, das soziale Umfeld und den Propheten verstehen. Eine gute Studienbibel kann dabei helfen.

2. Erkenne die Rolle der Propheten als Gottes Bundesanwälte

Die Propheten waren im Wesentlichen die Anwälte von Gottes Bund mit dem Volk. Obwohl sie viele Teile des Bundes ansprachen – unter anderem die Präambel und den historischen Prolog („Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten herausgeführt hat“) – und sie die Menschen oft an ihre Verantwortung erinnerten, Gottes Gebote (die „Bestimmungen“) zu erfüllen, war ihr Hauptanliegen, die Sanktionen des Bundes zu vermitteln. Im heutigen allgemeinen Sprachgebrauch verstehen wir Sanktionen meistens negativ (zum Beispiel „Wirtschaftssanktionen“). Aber in der Schrift können Sanktionen positiv oder negativ sein: Segen für Gehorsam und Flüche oder Strafen für Ungehorsam. Wie gute Anwälte trugen die Propheten ihre Klagen gegen den König und/oder das Volk vor und predigten ihnen, wie sie es versäumt hatten, Gottes Maßstab zu erfüllen.

3. Lerne, die prophetische Ausdrucksweise wahrzunehmen

Ein zentrales Merkmal prophetischer Rede ist ihre besondere Ausdrucksweise, mit der die Propheten zukünftige Wirklichkeiten schildern. Im Kern geht es darum: Wenn die Propheten über Israel, das Land und den Tempel sprechen, deuten sie oft bereits auf die kommenden Realitäten des Neuen Bundes hin. Daher sollten wir uns bei der Lektüre ständig die Fragen stellen: „Geht es hier wirklich nur um die zeitgenössischen Angelegenheiten des Propheten, oder spricht er von zukünftigen Realitäten?“ Die Propheten greifen Bilder aus dem Leben Israels auf, um damit auf die messianische Wirklichkeit des Neuen Bundes hinzuweisen. Das ist die Natur der prophetischen Redeweise – und wenn wir sie nicht erkennen, werden wir die Propheten missverstehen.

Das wusste Paulus auch in seiner Rede vor Agrippa (vgl. Apg 26,19–29). Dieses Prinzip der prophetischen Rede zeigt sich auch im Neuen Testament: Paulus weist in seiner Rede vor Agrippa darauf hin, dass die Propheten bereits von Christus und seiner Mission unter den Heiden sprechen (vgl. Apg 26,19–29). Die Sprache der Propheten – die bildhafte Ausdrucksweise, die sie verwenden – verlangt von uns, dass wir die äußeren Bilder von dem eigentlichen Wesen der Verheißungen des Neuen Bundes unterscheiden.

In ihrer prophetischen Sprache beschreiben die Propheten die Wirklichkeit des Neuen Bundes oft mit den Bildern und Begriffen des Alten Bundes. Die Propheten verwenden ihre bildhafte Sprache und ihre besondere Ausdrucksweise, um zu zeigen, was in Jesus Christus geschehen wird und welche Auswirkungen dies für die ganze Menschheit hat. Dies wird unter anderem wichtig in den Beschreibungen von Exil und Zerstreuung, der Sammlung der Stämme, der Rückkehr ins Land und der Art und Weise, wie die Flüche eintreffen. Obwohl die Propheten nicht allwissend von der Zukunft sprechen, kündigen sie häufig mit Gewissheit das Kommen Gottes in Jesus Christus, den Neuen Bund und sogar das zweite Kommen unseres Herrn an – ohne dabei alle Einzelheiten voneinander zu trennen. Dennoch besteht eine innere Einheit in den verschiedenen Stufen, von denen sie unter der Inspiration des Heiligen Geistes sprechen.

Ein Beispiel ist Joel: Wenn er von der Ausgießung des Geistes und vom großen und schrecklichen Tag des Herrn spricht (Joel 2,28–32), richtet er sich nicht nur an seine ursprünglichen Hörer. Diese Stelle wird in der Pfingstpredigt des Petrus zitiert (Apg 2,17–21), ihre Bilder finden sich aber ebenso bei der Kreuzigung Jesu wieder. Und man kann sogar sagen, dass sie in der Wiederkunft Christi ihre letzte Erfüllung finden wird. Joels Worte finden also, obwohl er eine einzige Absicht hatte, viele Bezüge in der gesamten Erlösungsgeschichte. Deshalb war diese Passage über das Ausgießen des Geistes eine von Johannes Calvins Lieblingspassagen, um zu erklären, wie die prophetische Ausdrucksweise gedeutet werden muss.

4. Untersuche, wie das Neue Testament die Propheten zitiert, andeutet oder widerspiegelt.

Da Christus seinen Jüngern auf dem Weg nach Emmaus sagte, dass alle Schriften von ihm und seinem Dienst (oder im weiteren Sinne von seinem Leib, der Gemeinde) sprechen, sollten wir immer darauf achten, wie die Schriften des Neuen Testaments die Propheten zitieren, andeuten oder widerspiegeln. Petrus erkannte (als Zeuge der Verklärung), dass die Passage in 5. Mose 18,15–19, die über Mose als das Urbild aller nachfolgenden Propheten spricht, ihre endgültige Erfüllung in Christus als den einen wahren Propheten fand (vgl. Apg 3,17–26). Diese Interpretation wird auch durch den Verfasser des Hebräerbriefs bestätigt, der verstand, dass, wie Mose als Diener des Alten Bundes über sein Haus treu war, Christus als Sohn über sein Haus, den Neuen Bund, treu ist. Zudem ist Gott der Erbauer des gesamten Hauses, des alten wie des neuen (vgl. Hebr 3,1–6).

Dieser Artikel ist Teil der Sammlung Hermeneutik.


Dieser Artikel wurde ursprünglich in der Zeitschrift Tabletalk veröffentlicht.

Bryan D. Estelle
Bryan D. Estelle
El Dr. Bryan D. Estelle es profesor de Antiguo Testamento en el Westminster Seminary California. Es autor de varios libros, incluyendo Echoes of Exodus.