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Liebe, Gerechtigkeit und Zorn

Stell dir vor, du gehst eine Straße entlang und siehst, wie ein junger Schläger eine ältere Frau verprügelt. Er schlägt immer wieder auf sie ein, während sie ihre Handtasche umklammert, die er ihr entreißen will. Was bedeutet es in dieser Situation, deinen Nächsten zu lieben? Zweifellos bedeutet Nächstenliebe, die notwendige Gewalt (gerechten Zorn) anzuwenden, um den (bösen) Schläger zu überwältigen und die (unschuldige) ältere Frau zu retten (zu lieben).1

Liebe und Gerechtigkeit, Güte und Heiligkeit, Gnade und Zorn sind keine Gegensätze. Sie ergänzen sich gegenseitig. Letztlich sind sie voneinander abhängig. Liebe ohne Gerechtigkeit ist reine Gefühlsduselei. Gerechtigkeit ohne Liebe ist schlichte Rachsucht. In Gott aber sind „Gnade und Wahrheit einander begegnet, Gerechtigkeit und Friede haben sich geküsst“ (Ps 85,11). Liebe strebt nach Gerechtigkeit für die Geliebten. Gerechtigkeit schützt, rächt und rechtfertigt die Geliebten. Das Kreuz Christi ist der vollkommene Ausdruck sowohl der Liebe Gottes, der unwürdige Sünder rettet, als auch der Gerechtigkeit Gottes, der die Bezahlung eines gerechten Preises für die Erlösung fordert.

Die Einheit Gottes

Es besteht eine vollkommene Harmonie in dem, was wir als Spannung zwischen den verschiedenen Eigenschaften Gottes wahrnehmen. Streng genommen gibt es nicht mehrere Eigenschaften, sondern nur ein einziges herrliches göttliches Wesen. Die klassischen Theologen haben die göttliche Einheit oft an die erste Stelle ihrer Erörterung der Eigenschaften gestellt. Sie argumentierten, dass ein richtiges Verständnis der Einheit für ein richtiges Verständnis aller Eigenschaften wesentlich ist. Gott ist eine Einheit. Er ist Geist, ungeteilt, einzigartig, nicht zusammengesetzt. Er ist eins, ohne Körper, Teile oder Leidenschaften. Wenn wir die Eigenschaften Gottes studieren, betrachten wir nicht verschiedene Teile von Gott. Lediglich aufgrund der Begrenztheit unseres Denkvermögens betrachten wir jede Eigenschaft separat. Der Puritaner Lewis Bayly vertrat mit seiner Erklärung die Ansicht des klassischen Theismus: „In Gott gibt es nicht viele Eigenschaften, sondern nur eine. Wie auch immer du sie benennst, diese kann nur die Wesenheit Gottes selbst sein.“ Gottes göttliche Eigenschaften (attributa divina) sind untrennbar mit dem Wesen Gottes (essentia Dei) verbunden.

Was können wir, angesichts der Einheit der göttlichen Eigenschaften, über das Verhältnis zwischen dem, was wir als die sanfteren und härteren Ausdrucksformen seines Charakters wahrnehmen, also Liebe und Zorn, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, sagen? Es wird für die Beantwortung dieser Frage hilfreich sein, uns auf die Liebe zu konzentrieren, die Eigenschaft, um die sich Diskussionen und Kontroversen drehen. „Gott ist Liebe“, darin sind sich die Bibel und populäre Meinungen einig. Aber wie sollen wir dann seine Gerechtigkeit und seinen Zorn verstehen?

Mehr als Liebe

Erstens: Gott ist Liebe und doch mehr als Liebe. Die Liebe wird von den älteren Theologen als eine Untergruppe der Güte betrachtet. Gottes Güte – von Stephen Charnock als „die Haupteigenschaft“ bezeichnet – ist die Gattung, von der Liebe, Gnade, Barmherzigkeit, Freundlichkeit und Geduld die Arten sind. Diese Klassifizierungsmethode impliziert, dass „Gott ist Liebe“ nicht bedeutet, dass Gott unter Ausschluss seiner anderen Eigenschaften Liebe ist (vgl. 1Joh 4,8). Der Apostel Johannes schreibt nicht „die Liebe ist Gott“. Die Gleichung kann nicht umgedreht werden. Die Bibel sagt auch, dass Gott „Licht“ ist (vgl. 1Joh 1,5) und dass Gott ein „verzehrendes Feuer“ ist (vgl. Hebr 12,29).

In all diesen Fällen wird die gleiche grammatikalische Konstruktion verwendet. Der Gott, der die Liebe ist, ist auch „treu“ und „gerecht“, wie Johannes uns sagt (vgl. 1Joh 1,9). „Obwohl Gott unendlich wohlwollend ist“, so der Presbyterianer J.W. Alexander im 19. Jahrhundert, „ist unendliches Wohlwollen nicht alles an Gott“. Gottes Liebe ist eine gerechte Liebe, und seine Gerechtigkeit ist eine liebende Gerechtigkeit. Wir dürfen nicht zulassen, dass ein Attribut die anderen überwältigt und zunichtemacht. Charles Spurgeon drückt es so aus: „Gott ist … so streng gerecht, als ob er keine Liebe hätte, und doch so intensiv liebend, als ob er keine Gerechtigkeit hätte.“

Definierte Liebe

Zweitens: Es muss der Bibel erlaubt sein, Liebe zu definieren. Nicht selten ist die Liebe Gottes so verstanden worden, dass man die moralischen Eigenschaften Gottes geleugnet hat. „Ich glaube an einen Gott der Liebe“, könnte jemand sagen, während er den Tag des Jüngsten Gerichts abschafft und die Feuer der Hölle löscht. Moralische Kategorien werden im Namen der Liebe gänzlich über Bord geworfen. „Ein liebender Gott würde niemals …“, beginnt die wohlmeinende Behauptung, und dann folgt eine Liste von Lebensumständen und moralischen Forderungen, die Gott, so wird behauptet, niemals zulassen oder stellen würde. „Er würde mich niemals verurteilen oder wollen, dass ich unglücklich bin, oder mein Verhalten missbilligen, oder meine gewählte Identität infrage stellen.“ Warum sollte er das nicht tun? Weil er – so die Behauptung – ausschließlich und jederzeit jeden und alles akzeptiert. Gott ist durch ein haltloses Verständnis von Liebe neu definiert worden – durch Vorstellungen, die von Heiligkeit und der Heiligen Schrift losgelöst sind. Wenn die Apostel sagen, dass Gott Liebe ist, meinen sie, dass er agape ist, nicht eros; caritas, nicht amor – sich selbst verschenkende und aufopfernde Liebe, nicht romantische Liebe, nicht erotische Liebe, nicht sentimentale Liebe und nicht unkritisch akzeptierende Liebe. Die Liebe Gottes ist eine unterscheidende, korrigierende und gerechte Liebe.

Die Bibel offenbart einen Gott, der sowohl gut als auch gerecht ist. Er ist „barmherzig und gnädig“, und doch wird er „die Schuldigen keineswegs freisprechen“ (vgl. 2Mose 34,6–7). „Sieh nun die Güte und die Strenge Gottes“, sagt der Apostel Paulus (vgl. Röm 11,22, Hervorhebung hinzugefügt). Wenn er nicht gerecht wäre, wäre er nicht gut. Gott wäre nicht gut oder gütig oder rechtschaffen oder heilig oder gerecht, wenn er bei Sünde wegschauen, das Böse ignorieren, Ungerechtigkeit dulden und die Unschuldigen der Willkür der Gottlosen überlassen würde. Die Unschuldigen wären dann ungerächt, nicht gerettet, nicht gerechtfertigt. Sie müssten auf ewig, ohne von den Bösen unterschieden zu werden, denselben Ort, dasselbe Schicksal, dieselbe Vergeltung und dieselbe Strafe teilen. „Seine Liebe ist nicht blind und nachsichtig und kann es auch nicht sein“, sagt Ian Hamilton, „genauso wie seine Gerechtigkeit und Heiligkeit nicht kalt und willkürlich sind und sein können.“ Auch hier gilt: Liebe erfordert Gerechtigkeit.

Neigung zur Liebe

Drittens: Gott ist zur Liebe geneigt. Auch wenn wir nicht zulassen sollten, dass die Liebe alle anderen Eigenschaften Gottes überschattet, so können wir doch sagen, dass die Liebe, und mit der Liebe ganz allgemein seine Güte, für Gott in gewisser Weise „natürlicher“ ist als sein Zorn. Er bevorzugt das Lieben gegenüber den strengeren Ausdrucksformen seines Charakters. An dieser Stelle kommt Sprache an ihre Grenzen, denn Gottes Eigenschaften sind, wie gesagt, eine harmonische Einheit. Liebe und Gerechtigkeit stehen in Gottes Natur oder Bewusstsein nicht im Widerspruch zueinander. Dennoch lehrt uns die Bibel, dass Gott Gefallen an „unveränderlicher“ oder „beständiger Liebe“ bzw. „Gnade“ (hebr. hesed) hat, während sie niemals lehrt, dass er sich daran erfreut, Zorn zu zeigen (vgl. Mi 7,18). „Gott ist eher zur Barmherzigkeit als zum Zorn neigbar“, sagt Thomas Watson. „Handlungen der Strenge wirkt er eher erzwungenermaßen“. Die Bibel lehrt, dass „er nicht aus Lust betrübt“, doch er liebt willig und eifrig (Klgl 3,33; vgl. 5Mose 7,6–7). Er ist „langsam zum Zorn“, während er schnell vergibt und „von großer Güte“ ist (vgl. Ps 103,8; 2Mose 34,6). Jesaja nennt Gottes Gericht sein „fremdartiges Werk“ (vgl. Jes 28,21); die Theologen nennen es seine opera aliena, seine fremdartige Tätigkeit. Er ist ein widerstrebender Richter. Gott ist eher geneigt zu lieben – Freundlichkeit, Gnade und Barmherzigkeit zu zeigen – als Zorn, Wut und Gericht zu zeigen. Die Äußerung der Liebe offenbart die Neigung bzw. die Richtung seines Wesens mehr als die Äußerung seines Zorns. Sie ist demnach auch mehr eine Manifestation seiner Präferenz. Der Puritaner William Gurnall sagte, dass die Liebe Gottes „alle anderen Eigenschaften in Gang setzt“.

Unsere Ausführungen über Gottes Eigenschaften sollten immer in Demut erfolgen. Wie viel wir auch gesagt haben, es gibt immer noch mehr zu sagen. Das Endliche kann den Unendlichen nicht umfassend oder erschöpfend erkennen. Dennoch können wir Gott wahrhaftig kennen, und wir können dort von Dingen sprechen, wo die Bibel von ihnen spricht, denn sie offenbart einen Gott, der sowohl Liebe als auch Gerechtigkeit ist. Dieser Wahrheit ist auf Golgatha ein Denkmal gesetzt.


Dieser Artikel wurde ursprünglich in der Zeitschrift Tabletalk veröffentlicht.

  1. Das Beispiel geht auf Francis Schaeffer zurück. ↩︎
Terry L. Johnson
Terry L. Johnson
Terry Johnson ist leitender Pastor der Independent Presbyterian Church in Savannah, Georgia (USA) und Buchautor.