
Was ist Exegese?
Dezember 9, 2025Wie man die Evangelien liest
Die Evangelien sind vier Erzählungen, die „das Evangelium“ berichten – das Leben, den Tod und die Auferstehung Christi. Dennoch werden sie oft missverstanden oder zu wenig geschätzt. Hier sind vier Hinweise zum Lesen der Evangelien:
1. Lies jeden Vers und jede Passage im Licht von Jesu Identität und Botschaft
Wir machen oft den Fehler, uns auf Nebenfiguren (z. B. die Jünger, Zachäus, Maria Magdalena) zu konzentrieren und nicht auf Jesus selbst. Das Wirken Jesu dauerte vermutlich etwa drei Jahre. In dieser Zeit lehrte, heilte und begegnete er Hunderten, wenn nicht Tausenden von Menschen. Johannes 21,25 besagt sogar, dass es „noch viele andere Dinge [gibt], die Jesus getan hat; und wenn sie eines nach dem anderen beschrieben würden, so glaube ich, die Welt würde die Bücher gar nicht fassen, die zu schreiben wären“. Damit wird deutlich: Jedes Evangelium bietet uns nur einen Ausschnitt aus Jesu Wirken – einen repräsentativen Ausschnitt. Lukas etwa berichtet von einundzwanzig Wundern, Johannes von acht. Die vier Evangelien erzählen kunstvoll das Leben Christi und entfalten die wichtigsten Ereignisse. Wir müssen darauf achten, wie die Evangelisten die Geschichte Jesu erzählen – durch Handlung, Figuren, Spannungsbogen, geographische Hinweise und die Verbindung zum Alten Testament.
2. Lies die Evangelien in Beziehung zum Alten Testament
Kein einziger Vers darf losgelöst von dem Drama der Erlösung gelesen werden. Matthäus beginnt sein Evangelium mit einem Stammbaum (vgl. Mt 1,1), der bewusst auf 1. Mose 2,4 anspielt. Johannes 1,1–5 wiederum stellt Jesus in den Zusammenhang der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1–2). Darüber hinaus verweisen die vier Evangelien tausendfach auf das Alte Testament – durch direkte Zitate, Anspielungen und thematische Parallelen. Die Evangelien vollbringen etwas Unglaubliches: Sie zeichnen nichts Geringeres als die Geschichte des Kosmos und Israels – verdichtet im Dienst Christi. Kurz gesagt: Lies die Evangelien mit Blick auf die alttestamentlichen Bezüge. Wer die Evangelien lehrt, ohne Jesu Beziehung zum Alten Testament aufzuzeigen, nimmt Matthäus, Markus, Lukas und Johannes ihre innere Kraft und Tiefe.
3. Lies die Evangelien gemeinsam – sie ergänzen einander
Die Evangelien sind Porträts von Christus, und jedes zeigt ihn aus einem leicht unterschiedlichen Blickwinkel. Eine hilfreiche Methode, diese Unterschiede zu erkennen, ist die Arbeit mit einer Evangelien-Synopse. Eine Synopse stellt parallele Texte der Evangelien nebeneinander – vor allem die überlappenden Passagen von Matthäus, Markus und Lukas. Wenn du also einen Abschnitt in den Synoptikern liest, markiere die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Darstellung. Dadurch wirst du entdecken, wie jeder Evangelist dieselbe Geschichte auf eigene Weise erzählt. Diese individuellen Akzente verraten uns viel über die Absicht und Theologie jedes Evangeliums. Wenn wir die Evangelien miteinander vergleichen, öffnet sich uns ein neuer Reichtum des Evangeliums.
4. Wende die Evangelien auf dich an
Lukas informiert Theophilus, einen Christen, dass er sein Evangelium geschrieben hat, damit „du [Theophilus] die Gewissheit der Dinge erkennst, in denen du unterrichtet worden bist“ (Lk 1,4; vgl. Joh 20,31). Mit den „Dingen“ sind wahrscheinlich die wesentlichen Züge von Jesu Leben, Tod und Auferstehung gemeint. Lukas schreibt also, um den Glauben von Theophilus und der Gemeinde zu stärken. Das Lukasevangelium stärkt also unseren Glauben. Wer die Struktur und den Verlauf der Erzählung kennt, gewinnt neues Vertrauen in Christus und wächst in der Hingabe zu Gott. Darüber hinaus gehören wir im 21. Jahrhundert zu einer einzigen Bundesgemeinschaft – einer Gemeinschaft der Gläubigen, die sich von Eden bis zum neuen Jerusalem erstreckt. Wir müssen die Evangelien als unsere eigenen Schriften lesen. Obwohl uns zweitausend Jahre von den ursprünglichen Adressaten trennen, spricht Gott immer noch durch diese vier kostbaren Dokumente zu uns.
Zusammenfassend müssen wir alle Evangelien im Licht Christi lesen, sie auf das Alte Testament beziehen, als eine vierfache Erzählung verstehen und diese Wahrheiten auf unser Leben anwenden. So werden wir Christus tiefer erkennen – und umso entschiedener für ihn leben.
Dieser Artikel ist Teil der Sammlung Hermeneutik.
Dieser Artikel wurde ursprünglich in der Zeitschrift Tabletalk veröffentlicht.


